Texte
Heim und Illusion
„ … Wir wohnen. Wir könnten nicht leben, wenn wir nicht wohnten. Wir wären unbehaust und schutzlos. Ausgesetzt einer Welt ohne Mitte. Unsere Wohnung ist die Weltenmitte. Aus ihr stoßen wir in die Welt vor, um uns auf sie wieder zurückzuziehen. …“
Vilém Flusser Dinge und Undinge
Jene Behauptungen, die Vilém Flusser in seinen Phänomenologischen Skizzen aufstellt, könnten Annäherungen an die Fragen sein, die Insa Wagner in ihren Bildwelten aufwirft. Es scheint, als könne man die Welt von der eigenen Behausung aus erfassen - die Erde, den Mond, die Sonne -, jedoch stellt sich dies als Unmöglichkeit heraus, wenn die Bereitschaft fehlt, das Heim zu verlassen, um womöglich erkenntnisreicher wieder heimzukehren. Die äußere Behausung wird zur Parabel auf die Veränderung innerer Zustände. Von außen zugeschriebene Kausalitäten und Beziehungsgeflechte werden bedeutungslos angesichts einer inneren Haltung.
Unserer Vorstellung von Heim - mit Haus, Tür und Fenster - stellt Insa Wagner im gleichnamigen Bild eine aus Matratzen zusammengebaute Hütte zur Seite. Eine Behausung voller Bedeutsamkeit, die sich nur dem Individuum öffnet und dem allgemeinen Blick verborgen bleibt. Verstanden als Kommentar zu dem viel diskutierten Heimatbegriff entlarvt sich hier Heimat als Utopie.
Die mit ‚Heim’ und ‚Illusion’ betitelten Werke thematisieren den Bezug von Heimat auf Orte und geben den Blick frei auf Orte des Vertrauten und gleichzeitig Verborgenen - Heim und heimlich. Der Bezug von Heimat auf Orte, „Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt arbeitet, Familie und Freunde hat“ - bedeutet nicht, dass Heimat einen Ort hat, noch einer ist. „Heimat ist Nichtort, Heimat ist Utopie“ bemerkt Bernhard Schlink in seinem Essay ‚The Place of Heimat‘.
Gleich dem Dichter Petrarca, der auf dem Gipfel des Mont Ventoux seinen Blick über Berge und Täler schweifen lässt und dabei zu der Einsicht kommt, dass Bilder, Metaphern und Stimmungen, die beim Betrachten einer Landschaft angeregt werden, das Wesentliche im menschlichen Erkenntnisprozess ausmachen, erkundet Insa Wagner mit zeichnerischen und malerischen Mitteln innere Landschaften und Seins-Zustände.
Ihren Ausgangspunkt nehmen die Aquarelle und Gouachen in der Beschäftigung mit literarischem Textmaterial, das sich von Ovids Metamorphosen über Fragmente von Maurice Maeterlinck und Rabindranath Tagore bis hin zu Sachtexten erstreckt. Die Bildkraft der teils symbolistischen Texte wird zur Triebkraft der zeichnenden Hand und tritt in einen poetischen Dialog mit eigenen Assoziationen und Zustandserkundungen.
Das Oszillieren zwischen den Bildebenen, indem ein Bildraum aufgebaut wird, der sogleich wieder aufgelöst und zu einer Oberfläche transformiert wird, schafft einen Moment der Desorientierung. Ein kurzes Innehalten, eine kaum spürbare Verrückung der Sinne bewirken eine Verlangsamung des Blickes. Die äußerlich sichtbaren Erscheinungen der fragmentarisch verschwimmenden Objekte und Gebilde werden in einen Zusammenhang mit eigenen Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen gestellt. Es öffnet sich ein Fenster zu einer inneren Landschaft. Die Außenlandschaft wird zur Innenlandschaft.
In Annäherung an das Motiv des Pygmalion aus der griechischen Mythologie beschränkt Insa Wagner im gleichnamigen Aquarell die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit der Protagonisten - die erschaffene Figur muss verborgen unter einem Tuch ertastet und gesucht werden, so wie der Bildhauer im Stein das Wesentliche sucht, das er hernach mit seinem Werkzeug zu befreien trachtet -. Durch die Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmung wird die Suche nach der Form zu einem inneren Vorgang - zu einer Introspektion.
Somit fungieren Insa Wagners Bilder als Katalysator des Selbst bewusst Werdens, im Sinne Augustinus’: „Und es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne - und haben nicht acht ihrer selbst.“
In der Malerei findet Insa Wagner eine Sprache jenseits verbaler Formulierungen. Ihre Bilder offenbaren Einblicke in ein ‚Zwischenreich‘, wie Paul Klee es formulierte, „zwischen der mit unseren Sinnen wahrnehmbaren Welt und der dem Glauben zugänglichen Welt“.
Im Zwiegespräch mit aktuellen gesellschaftlichen Diskursen werden Perspektiven auf die materielle Kultur sichtbar, die einen unverstellten Blick auf die Sprache der Dinge ermöglichen. Das Vermögen des Geschaffenen als Vermittler und Übersetzer zwischen fremden und eigenen Räumen, materiellen und immateriellen Welten sowie sozialen und physischen Aspekten gerät vor diesem Hintergrund in den Fokus.
Ulrike Koloska